Musicologica Olomucensia vol. 5, (2000):155-186

EUROPÄISCHE KLASSISCHE MUSIK IN DER HEUTIGEN WELT

Jan Vièar

Die Studie entstand aus Anlass des Salzburger Seminars, das in Mozarts Geburtsort zwischen 6. und 13. Dezember 1997 stattfand. Neben der ausführlich behandelten Situation der Werke und des Schaffens zeitgenössischer Komponisten wird hier insbesondere folgendes festgestellt:
1. Die europäische klassische Musik ist in den europäischen Kultur- und Musikzentren entstanden und hat sich hier auch weiterentwickelt, indem sie sich in den ersten Phasen ihrer Entwicklung auch auf das weite Hinterland des volkstümlichen musikalischen Lebens stützt. Diese Musik hat ihre natürlichen und tiefsten Wurzeln in Europa und hier blühte sie insbesondere im 18. Und 19. Jahrhundert auf, im Interpretationsbereich auch im 20. Jahrhundert. Auf Grund von starken Traditionen und einer riesengroßen institutionellen Basis ist die Entwicklung der klassischen Musik in Europa noch nicht ganz abgeschlossen. Dieser Typ der hohen Musikkunst lebt in verschiedenen Erscheinungen der heutigen Musik weiter. Seit der Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert wird die hohe Kunst und die klassische Musik für ein Gut einen und echten Wert gehalten. Europäische Kulturkreise haben deswegen sehr viel Energie (und allmählich auch sehr viel Geld) investiert, um diese Musik in den verschiedenen gesellschaftlichen Schichten durch die Schulausbildung (intentionell) sowie durch das Betreiben selbst, also durch das Umsetzen dieser Musik (funktionelle Erziehung) zu popularisieren. Dieser Typ von Musik wurde auch zur leitenden inhaltlichen Gestaltung der Ausbildung von professionellen Musikern.
2. Auf ähnliche Art und Weise, wie die italienische Oper im 18. Jahrhundert ganz Europa erobert hatte, hat die europäische klassische Musik die Kulturen der meisten außereuropäischen Regionen "erreicht" oder zumindest stark beeinflusst: Zuerst war es Nordamerika, wo diese in Form der hervorragenden Reproduktionskunst innerhalb von hundert Jahren ihre Blütezeit erlebte (ca. 1890-1990), dann Asien, insbesondere Japan (1945-1990), teilweise auch einige Gebiete von Südamerika und Südafrika. Als ein genuin europäisches Kulturphänomen, darüber hinaus genügend abstrakt sowie formalisiert und deswegen zu einer Interpretations- sowie Rezeptivadaptierung an örtliche Bedingungen geeignet, untersützt durch Wirtschaft und Massenmedien, drang sie hier nicht nur in intellektuelle und ökonomisch prosperierende soziale Kreise, sondern auch in Schulsysteme vor und beeinflusste das inländische Schaffen von Komponisten in bedeutendem Maß Zwar ging die über Jahrhunderte bestehende Idee, durch eine Fusion der europäischen und der einheimischen amerikanischen oder japanischen Musik neue Nationalmusiken der USA oder Japans zu schaffen, nur teilweise in Erfüllung, allerdings bildet die europäische klassische Musik und ihre jeweiligen Erscheinungen weiterhin einen der wichtigsten und organischen Bestandteile des "Schmelztiegels" der neuzeitlichen Musikkulturen. Die Position dieser Musik ist natürlich in den meisten außereuropäischen Bereichen nicht so stark wie in Europa, ihre Mission wird ja in den letzten Jahren durch einheimische Musikkreise und Kulturkontexte sogar abgelehnt (insbesondere in Afrika, Indien und in der moslemischen Welt). In diesen Fällen koexistiert diese Musik eher nur mit inländischen Typen der traditionellen Volksmusik oder mit Typen der klassischen Hofmusik (wie zum Beispiel in Schwarzafrika).
3. Kennzeichnend für das Ende des 20. Jahrhunderts sind in der Welt sowie in Europa nicht nur der Postklassizismus und Postmodernismus in der Stilorientierung von Komponisten, die überwiegend konservative Orientierung der intellektuellen Zuhörer auf das traditionelle Repertoire und der Kult seiner Interpreten, sondern gleichzeitig ist auch der globale Einfluss der modernen Popmusik des amerikanischen Typs und der eintretende musikalische Multikulturalismus typisch. Das indiziert, dass europäische Musikkathedralen, repräsentiert durch riesengroße Sinfonien, Konzerte und Opern, zu Ende gebaut sind. Die europäische klassische Musik wurde, angefangen mit dem Neoklassizismus und mit anderen Retro-Stilen, also mit dem Zerbrechen und Zersplittern der einstmals in ihrem sekundären Dasein. Auch die Weisheit der Sprache, zum Beispiel im Sprachgebraucht der jungen Generation, macht deutlich, dass die moderne Musik für die Zukunft - trotzt der Popularisierung und der massiven Schulausbildung - nicht die klassischen Musik hat sich im 20. Jahrhundert in die Interpretationskunst transformiert, die den besten Formen eine dauerhafte Existenz garantiert. Die zeitgenössische künstlerische Musik, obwohl sie eine logische Nachfolgerin der europäischen klassischen Musik ist und durch Tausende von diversen Erscheinungen repräsentiert wird, überlebt nur kärglich am Rande des gesellschaftlichen Interesses.
4. Die europäische Musikkultur bildet ein einzigartiges System von Musikinstitutionen und Äußerungen des Musiklebens, repräsentiert durch Orchester und Interpreten, Schulen und Ausbildungssysteme, Partituren, Aufnahmen, Bücher mit Musikthematik, durch ein weltweites architektonisches Ensemble von Konzert- und Opernhäusern. Sie formiert damit in der Welt einen einzigartigen Reichtum, der ebenso weiter entwickelt (in Form einer inneren Weiterentwicklung oder mit Fusionen usw.), wie auch verstanden, popularisiert und bewertet, also interpretiert werden muss. Dies bedeutet auch die Notwendigkeit der Unterstützung seitens des Regierungs- sowie Privatsektors im Rahmen einer gemeinnützigen Tätigkeit. Es handelt sich um das erste Musiksystem, das die Welt teilweise vereinigt hat und das die Aufmerksamkeit des wesentlichen Teils der musikliebenden Öffentlichkeit auf sich gezogen hat. Auch heutzutage, bei einer relativen Stagnation, oder sogar bei einem Interessenrückgang, zieht die europäische klassische Musik in den traditionellen Musikzentren sowie außerhalb von ihnen zwar einen minoritären, aber gesellschaftlich hoch aktiven Teil von 1-10% der Weltbevölkerung an.
5. Die konkrete Position und Situation der europäischen klassischen Musik in jedem beliebigen Land oder Bereich entspricht der unmittelbaren historischen Entwicklung im Kontext dieser Musik in einer konkreten Region, ihren jeweiligen ökonomischen Bedingungen und dem gesamten Kulturniveau. Dies zeugt gleichzeitig davon, wie die betreffende Gesellschaft diese Musik insgesamt beurteilt und wie aktiv sie die Musik pflegt. Darin spiegelt sich nicht nur die Aufgabe von führenden Persönlichkeiten des Kulturlebens und von Kunstmanagern sowie die gesellschaftliche Position von Künstlern, sondern auch die Aufgabe von weltweiten Grammophonmonopolen und Medien, Weltmoden und globalen Kulturtrends.

Published: June 11, 2000  Show citation

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Vièar, J. (2000). EUROPÄISCHE KLASSISCHE MUSIK IN DER HEUTIGEN WELT. Musicologica Olomucensia5, Article 155-186. https://doi.org/10.5507/mo.2000.012
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