Musicologica Olomucensia vol. 4, (1998):123-140
DOPPELCHÖRIGE KOMPOSITIONEN (CORI-SPEZZATI) IN BÖHMEN AM ÜBERGANG DES 16. ZUM 17. JAHRHUNDERT. ZUM STAND VON MANUSKRIPTEN UND GEDRUCKTEN QUELLEN UND ZUM PROBLEM DER MIGRATION VON DOPPELCHÖRIGEM GESANG
Dies stellt eine Aufgabe dar, die bisher nicht zufriedenstellend und definitiv erklärt wurde. Ihre Erfüllung wird einerseits durch die nicht komplette Erfassung von allen Musikquellen aus dieser Zeit erschwert, und zwar sowohl handschriftlicher, als auch gedruckter Art, die bei vielen Museen, Institutionen und Archiven nicht zufriedenstellendsichergestellt wurde, einschließlich der Sammlungen in dem kirchlichen Eigentum, andererseits wird die Situation durch die Bewegung der schon erfassten Quellen kompliziert, die in heutiger Zeit im Rahmen der Restitutionen den ursprünglichen Inhabern zurückgegeben werden. Ein großes Risiko von zahlreichen Verlusten der wichtigen Handschriften und Druckstücken musikalischer Art folgt auch aus möglichen Diebstählen, die oft auf professionelle Weise von den Leuten durchgeführt werden, die die menschliche Naivität, sowie das unverantwortliche Verhalten von einzelnen Verwaltern der verleihten Sammlungen ausnutzen.
Die doppelchörige Komposition stellt ein spezifisches Gebilde dar. Sie erlebte ihre größte Entwicklung von der 2. Hälfte des 16. bis zu dem ersten Drittel des 17. Jahrhunderts in Italien und prinzipiell gründet sie auf dem Ton- und Timbrekontrast von zwei selbständig betätigten Chorkörpern, die entweder rein vokal, oder instrumental besetzt sein können, oder die den Farbkontrast der Kombination der vokalen und der instrumentalen Äußerung anwenden können.
In Böhmen sind von den 80er Jahren des 16. Jahrhunderts bis zu den 40er Jahren des 17. Jahrhunderts doppelchörige Kompositionen belegbar, die in den handschriftlichen Quellen in Prag, Èeský Krumlov, Hradec Králové, Klatovy, Rakovník, Rokycany und Ústí nad Labem eingetragenen wurden. Ihre Autoren sind einerseits die aus Italien, aus den Niederlanden oder aus Deutschland stammenden Exponenten des neues, frühbarocken Stils, andererseits sind es Komponisten aus dem Bereich der kaiserlichen Musiker an den Höfen von Rudolf II. und Ferdinand II., und weiterhin einheimische Autoren, die in Böhmen tätig waren und die mit den humanistischen Gelehrtenkreisen in Verbindung standen, von deren Leben wir aber bisher nicht genug Informationen haben.
In diesem Sinn ist eine wichtige Persönlichkeit der Musiker Jakob Handl-Gallus, ein gebürtiger Slowene, der der doppelchörigen Komposition einen großen Teil seines Schaffens widmete und der seinen Lebensweg in Prag beendete, wo er auch bei dem tschechischen Buchdrucker Jiøí Nigrin die Mehrzahl von seinen Werken herausgegeben hat.
Von den tschechischen Autoren um die Wende des 16. zum 17. Jahrhunderts beschäftigte sich mit der doppelchörigen Komposition am meisten der Komponist Pavel Spongopaeus Jistebnický (1560-1619), in dessen Schaffen insgesamt 24 nicht komplett erhaltene Messenzyklen belegt sind, bei denen die doppelchörige Besetzung vorauszusetzen ist.
Die auf dem böhmischen Gebiet erhaltenen doppelchörigen Kompositionen können zwar mit ihrem Kompositionsniveau mit den repräsentativen Kompositionen der zeitgenössischen führenden Darsteller der sogenannten Venezianischen oder Römischen Schule nicht verglichen werden (Andrea und Giovanni Gabrieli - Giovanni Pierluigi da Palestrina, Ruggiero Giovannelli, Giovanni Maria Nanino und Giovanni Berdardino Nanino usw.), sie belegen aber, dass die böhmischen Autoren fähig waren, sich Grundprinzipien dieser Kompositionstechnik anzueinignen und dies in dem Schaffen anzuwenden, das seinen Nachhall vor allem bei den Chören der Literatbruderschaften der böhmischen Städte fand.
Obwohl es nicht möglich ist, den Nutzcharakter dieser Technik und den halbprofessionellen Charakter ihrer Ausführung zu bestreiten, im Vergleich zu der farbigen Erfindungskraft der Kompositionen von italienischen Meistern und zu der gesamten Pomphaftigkeit von kostspieligen italienischen Kirchenfesten, die in Venedig in der St. Marcus-Kirche in Rom in der päpstlichen Basilika des hl. Peter oder irgendwo anders unter der Mitwirkung von speziell zu diesen Zwecken errichteten professionellen Sänger- und Musikerchöre stattfanden, zeugt die Menge der erhaltenen doppelchörigen Kompositionen und ihre Verbreitung eindeutig davon, dass vor der Schlacht am Weißen Berg in Böhmen Grundvoraussetzungen für die Rezeption und für Entwicklung des barocken Musikstils vorhanden waren, die dann gewaltsam mit dem Dreißigjährigen Krieg unterbrochen wurden.
Der erhaltene gedruckte Import im Bezug auf die doppelchörige Produktion zeugt davon, dass die Vermittlungsaufgabe in dieser Richtung vor allem von den süddeutschen Druckereien getragen wurde (Nürnberg, München), woher zu uns über Süd- und Westböhmen, nach Prag und dann weiter in den Norden und Osten das moderne Repertoire kam. Die erfassten Konkordanzen zeugen auch von regen Kontakten und vom Repertoireaustausch zwischen einzelnen Literatbruderschaften, wo die wichtige "Volksbildungsaufgabe" von Repräsentanten der humanistisch gebildeten Intelligenz und von Schullehrern erfüllt wurde.
Die wichtigste böhmische Ortschaft, wo der reichste Komplex des doppelchörigen Repertoires zu erfassen ist, mit der bisher ältesten handschriftlichen Eintragung einer schon konzertant komponierten Komposition mit der Unterstützung des Generalbasses, ist die westböhmischen Stadt Rokycany. Auf dem dortigen Dechanat der römisch-katholischen Kirche blieben bis heute ingesamt 15 handschriftliche und gedruckte Komplexe erhalten, die über das Niveau des verwendeten geistigen Repertoires aus der 2. Hälfte des 16. Und dem ersten Drittel des 17. Jahrhunderts in Böhmen anschaulich Auskunft geben. Aus dieser reichen Sammlung bildet die doppelchörige Produktion nur ein Viertel aus dem gesamten Komplex der erhaltenen Werke.
Published: June 11, 1998 Show citation
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